PERIOD ACTING – VON DER GEBERDENKUNST

»Vom Lully lesen wir, daß er alle seine Acteurs, Actricen, Täntzer und Täntzerinnen in dieser Geberden-Kunst, d. i. in der Actionselber unterrichtet, und damit gnugsam bezeiget habe, daß es zu dem Amt und Wesen eines vollkommenen Capellmeisters mit gehöre, hierin was rechtes zu verstehen.« - so berichtet der Hamburger Sänger, Opernkomponist und Musikschriftsteller Johann Mattheson (1681-1764) der Nachwelt. Welche Bedeutung Mattheson dem körperlichen Ausdruck in der Musik beimaß, beweist noch heute seine Schrift »Der vollkommene Capellmeister«. Ohne sie würde es nach seiner Überzeugung ein Komponist, der sich auf einem »guten musicalischen Schau-Platz d. i. in auserlesenen Opern-Aufführungen recht tapffer umgesehen hat (…) nimmer in der Setz-Kunst hoch bringen«. Was hat man sich nun unter dieser barocken Gestik vorzustellen, die für den Musiker des Barock eine Selbstverständlichkeit darstellte, von uns heute jedoch als Kuriosum bestaunt wird - ähnlich fremd wie die Bewegungen des japanischen Nô-Theaters oder der Kabuki-Oper?

Grundlage für die barocke Darstellungskunst sind die Regeln der Rhetorik aus der Antike. Schon Cicero leitet in seinem Buch »de oratore« den Redner an, seine Worte mit Gesten zu unterstützen: »pointierte Formulierungen entgehen oft den Menschen deren Aufmerksamkeit nicht geschärft ist. Der Vortrag, der die Regungen des Gemüts zur Schau trägt, sprich sie alle an«. Die Regungen des Gemütes plastisch zur Schau zu stellen war daher das Ziel aller, die öffentlich zu reden hatten. Schon der römische Rhetoriker Quintilian beschrieb systematisch grundlegende Gesten und Handhaltungen und verlangte, dass die rechte Hand die Gesten führten solle und stets über der Linken zu halten sei. Man unterschied zwischen indikativen (zeigenden), imitativen (abmalenden) und expressiven (ausdrückenden) Gesten. Sprach man von sich, zeigte die Hand auf die eigene Brust. War von Trauer und Tränen die Rede, deutete die Hand auf das von Tränen geweitete Auge und sank an der Wange hinab. Für Abscheu machte man eine abwehrende Geste nach links und wandte sich gleichzeitig mit dem Kopf und dem Oberkörper nach rechts ab. Generell zeigte man Gutes und Positives nach rechts oder nach oben deutend an. Kam die Rede auf negative Dinge zu sprechen, deutete man nach unten und nach links. Diese Prinzipien, nach denen man öffentlich agierte blieben von der Antike bis ins 18. Jahrhundert hinein weitgehend unverändert. Quintilians Ausführungen wurden im Zuge der humanistischen Bewegung von fast allen Rhetorik- und Schauspielschulen übernommen und nach und nach erweitert. Noch Goethes »Regeln für Schauspieler« von 1803 schreiben diese Tradition fort, einige seiner Vorschriften gehen direkt auf Quintilian zurück. Es sind vor allem die Schauspiellehren des 18. Jahrhunderts, die uns ein umfassendes und lebendiges Bild der historischen Schauspielkunst hinterlassen haben, allen voran die »Dissertatio de actione scenica« des Jesuitenpaters Franciscus Lang aus dem Jahre 1719 und die »Chironomia« des irischen Priesters und Rhetorikers Gilbert Austin, erschienen 1806. Austins Darstellungen sind besonders wertvoll, da er seine Gestikbeispiele ausführlich bebilderte und mit einer eigens entwickelten Notation versah. So ist es noch heute möglich, anhand dieser Beispiele die Techniken der barocken Gestik aus erster Hand nachzuvollziehen und zu erlernen.

Nach Mattheson galten rhetorische Grundsätze nicht nur für Bühnendarsteller, sondern ebenso für alle Musiker. Sowohl ein Komponist als auch ein öffentlich auftretender Sänger, ja selbst ein Instrumentalist hatte die Rhetorik und die damit verbundenen Gesten zu kennen und zu beachten: »Die Meinung dieser Wissenschaft zielet dahin, daß Geberden, Worte und Klang eine dreifache Schnur machen, und zu dem Ende miteinander vollkommen übereinstimmen sollen, daß des Zuhörers Gemüth beweget werde. « Aus einem gut komponierten Rezitativ sollten gleichsam schon die Gesten ablesbar sein. Hier wurden gerne affektreiche Wörter eingesetzt, die durch Gesten plastisch herausgehoben werden konnten, und auch in rasanten Koloraturarien wurden einzelne Begriffe oder Ausrufe hineingeschrieben, die der Darsteller mit treffender Geste effektvoll ins Publikum schleudern kann. Katalogartige Auflistungen von Gesten für Freude, Trauer oder Zorn, verbunden mit genauen Anweisungen für die Stellung der Hände und Füße, die Blickrichtung der Augen und die Haltung der Finger, dürfen nicht den Blick dafür verstellen, dass barocke Gesten bei aller Stilisierung aus natürlichen Bewegungen hervorgegangen sind. Gilbert Austin charakterisierte das Verhältnis von Natürlichkeit und Kunst auf der Bühne seiner Zeit mit folgenden Worten: »Obgleich die Gesticulation einer unendlichen Mannichfaltigkeit fähig ist, so hat sie doch in jedem Verhältnis ihr Maaß und ihre Grenze (...) Die Kunst der Gesticulation soll nicht überall glänzen; aber sie gelernt zu haben, wird auch auf die geringsten Stellungen und Bewegungen einen vorteilhaften Einfluß haben, und den Gebildeten von dem Rohen unterscheiden. (...) Daß das Wesen der Action und Gesticulation in der Natur gegründet, und ursprünglich aus dem natürlichen Ausdruck der Affecte und Leidenshaften zu schöpfen ist, leidet keinen Zweifel.« Um eine möglichst ansprechende Haltung zu erreichen, empfahl man den Darstellern, die vorzüglichsten Darstellungen in der Malerei und in der Bildhauerkunst zu studieren und daraus Posen und Haltungen zusammenzustellen. Andersrum schickte man angehende Maler und Bildhauer gern ins Theater, damit sie dort anmutige und elegante Bewegungen studieren konnten, denen sie auf der Straße kaum begegnet wären.

Nils Niemann